Anfang im Januar 2012
Existentielles Suchen
Fortsetzung 1
Wer sich hineinbegibt in das, was Menschen erleben und somit auch in das, was er selbst erlebt und erlebt hat, kann dies nur, wenn er das Gefüge verläßt, das ihm sein Denken, Fühlen und Dasein vorstrukturiert. Soweit diese Struktur nicht im hilfreichen Dienst steht als Ausgangspunkt, gilt es, diese zu verlassen. Aber auch der Kampf gegen sie bleibt im Bannkreis ihrer Wirkung. Nur eine Struktur, die in einer ständigen Wechselwirkung sich formen läßt von der Kraft des Lebens in der Bewußtwerdung, kann Orientierung bieten.
Wenn es stimmt, dass hinter allem Urängste wirken (E.Drewermann, M.Renz), dann ist es wichtig, herauszufinden, inwieweit sie von Strukturen in Schach gehalten werden, von politischen, gesellschaftlichen und religiösen. Gehorsamsstrukturen nutzen aus, dass die Menschen nach Halt und Beruhigung suchen als Mittel gegen die permanente Bedrohung auf dem Grunde der Existenz.
Gott als Begriff und als Instanz ist in diesem Komplex eine Funktion.
Ihm wird die Allmacht zugesprochen, die Welt in ihrem Zusammenhang, ihrer Entstehung und in ihrer Ausrichtung bedingen und steuern zu können. Deutungsversuche werden zu Behauptungen, Aussagen und Offenbarungen. Die Natur wird zu seiner Schöpfung und das Weltgeschehen zu seiner Vorsehung. Darin liegt dann Entlastung von der existentiellen Herausforderung, sich die Tiefen und Höhen schrittweise zu erschließen. Projektionen und Täuschungen sind dann nach außen verlagerte Suchbewegungen, die nicht mehr in der Nähe der ursprünglichen Ängste und Schmerzen bleiben. Sie müssen festgehalten und verwaltet werden. Abweichung muß sanktioniert werden.
Wer sich dem Menschen, seiner Angst, Not und Verzweiflung zuwendet, wird den Mut und das Vertrauen brauchen, sich von dem Entlastungssytem nicht bestimmen und aufhalten zu lassen. Dies geht jedoch nicht durch Abschütteln der eigenen existentiellen Tiefenerfahrung. Mut hier nicht als Abschalten der Angst, sondern als Wagnis in der Angst. Vertrauen hier nicht als Sich-
Bergen in einem Schutzraum, sondern als Loslassen in Beziehungsereignisse hinein.
Worin besteht die Urangst?
Trennung von dem Ur-Einen, sagt Renz. Verlust des Vertrauens in die tragende Kraft des Alles-Umgebenden. Mit Drewermann habe ich gelernt, den Menschen in seiner Verlorenheit inmitten der Natur zu verstehen. Seine Angst wächst in dem Maße, wie er bewußter wahrnehmen kann, was um ihn herum und in ihm geschieht. Die Natur schützt ihn nicht, sie holt alles zurück, was sich in seiner Eigendynamik nicht mehr halten kann. So läßt sich zunehmend keine Schöpferkraft mehr am biologischen Anfang erkennen. Das Leben hat durch zufällige kosmische Prozesse seine Chance genutzt und gibt sich selber weiter in der ständigen Bedrohung, von den zersetzenden Kräften wieder aufgelöst zu werden. Urangst läßt sich so verstehen als Reaktion auf die Bedrohung durch die Natur. Sie macht die kosmischen Bedingungen präsent.
Existentielle Suche kann so gesehen nicht mehr zurückgehen in einen verlorenen Urzustand.
Sondern sie braucht eine Dimension, in die hinein sie das zufällig Gewonnene endgültig retten kann. Herausforderung ist das Sich-Hineinwagen in allen Tiefen und Höhen. Besonders geht es dabei darum, das uranfänglich Gewordene zu öffnen und loszulassen. Das ist die Neugeburt der ganzen Existenz.
Gott, erfahren in seiner Wirkkraft, kann nicht gefunden werden in den Strukturen des Kosmos und in den Prozessen der Natur, auch nicht als Haltepunkt in einer übergreifenden Macht. Er ereignet sich wohl, wenn sich das Leben sich selber zuwenden und bestärken kann. Das wiederum geschieht in der wechselseitigen Resonanz der Lebewesen. Glauben wäre dann das Sich-Einlassen auf diese Resonanz. In ihr wird die Stummheit der Angst abgelöst durch Hineinschwingen in Weisen und Weiten, die Räume und Zeiten durchdringen und überschreiten.
Der Tod ist nicht das zentrale Ereignis im Leben. Der Tod ist die letzte Ernte, die Trennung der Früchte vom Baum. Viel entscheidender ist die Verdichtung mitten im Leben. Der geborene Mensch versucht in das Wirkungsgeflecht der Welt hineinzukommen. Ideal gesehen wäre es die Teilnahme als Mitwirkender. Das Ziel ist das Ankommen mitten in dieser Welt. Geben und Empfangen von Wirkungen. Aufblühen in der Wechselwirkung der Beziehungen. Dabei spielt Bewußtwerdung eine wichtige Rolle, sie ermöglicht zunehmende Vertiefung und Öffnung. Ankommen in der Welt eröffnet die Möglichkeit, loszulassen und hineinzugehen in die Wirklichkeit, wie sie ist. In all ihren Abgründen wird sie an dieser Stelle zugänglich und wandelbar.
Schon früh können Störungen auftreten. Das Ankommen wird verhindert durch Zurückschrecken, Verweigern, Macht und Eroberung. Ganze Beziehungsgeflechte können davon betroffen sein. Menschen sind in ihrem Ankommen angewiesen auf andere. Sie werden geprägt von dem kleinen und großen Wirkungszusammenhang, in den sie hineingeboren werden. Was sie dabei erleiden, kann ein Trauma werden. Das Nicht-Ankommen-Können wird eingefroren zum unerlösten Schrei. Herauslösen kann nur eine Beziehung, die alle Verstrickungen miteinbeziehen kann und in ihrer besonderen Zuwendung öffnet und befreit. Diese Beziehung muß weiter sein und dichter als alle Herkunft.
Verstrickungen können sehr vielfältig sein.
Der einzelne Mensch ist von Anfang an in das System der familiären Rollenverteilung, der unbewußten Aufträge und der Wechselwirkung mit der Gesellschaft verstrickt. Und dies nicht erst von der Geburt an, sondern mit der Zeugung. Dahin gehen jedenfalls die neuesten Erkenntnisse.
In das Kraftfeld der Familie wirken Erblasten aus früheren Generationen. In dem Maße, wie sie weitergegeben wurden. Nicht bewältigtes Dasein, nicht gelungenes Ankommen werden als Lebensaufgabe übernommen, meist ohne bewußte Wahrnehmung. Gelungenes Leben ist losgelassenes Leben. Dieses öffnet und ermutigt. Oft ist beides mitgegeben. Überwiegen die Erblasten, zeigt sich das in Störungen. Es lohnt sich immer zu erforschen, was aus der Herkunft in die Gegenwart hineinwirkt.
In der Gesellschaft gibt es Strukturen, die eine Dynamik auslösen.
Vertikal sind es die Schichten, die eine Rangordnung der Bevölkerungsgruppen vorgeben. In ihnen wirkt der Drang nach oben und die Abstoßungstendenz nach unten.
Horizontal ist die Abschottung gegenüber fremden und feindlichen Gruppen.
Weiterhin gibt es Ausrichtungen, durch die politische, religiöse und kulturelle Ziele und Vorgaben gesetzt werden. Sie verlangen Anpassung und werden mittels Sanktionen durchgesetzt. Dagegen können Oppositionen und Revolutionen entstehen.
Der Einzelne ist durch das Kraftfeld der Familie diesen Bedingungen in einer Wechselwirkung ausgesetzt. Resignation und ohnmächtiger Protest lassen verharren oder bewirken Ausgrenzung. In die andere Richtung drängt das Verlangen nach Kompensation. Das alles sind Prozesse in Beziehungsfeldern und sehr störungsanfällig. Der Einzelne muß sich im Mikrokosmos des nahen Umfeldes behaupten und dann seine Einstellung zum Makrokosmos der Gesellschaft finden.
Wirken sich diese Spannungsfelder als Bedrohung oder als Herausforderung aus?
Werden Urängste geweckt und alte Muster aktiviert, auf diese zu reagieren? Kommt es zu Übertragungen etwa vom Mikrokosmos zum Makrokosmos oder zu Projektionen? Oder setzt sich das Verlangen durch, Wege daraus zu finden? Der Umgang mit materiellem Wohlstand und die Teilhabe am Machtgefüge der übergeordneten Strukturen finden hier ihren Niederschlag.
Die Fähigkeit zur Integration setzt Loslassen voraus, Ankommen in der Schärfe der Realität und die Aufnahme von Kraft aus einer tieferen Dimension.
Die Menschen erleben die Welt in verschiedenen Aspekten.
Die Natur kann faszinierend sein aber auch bedrohlich. Naturerkenntnis und Naturmythologie stehen sich heute oft krass gegenüber. Rationaler Fortschritt und deutende Verarbeitung gehören verschiedenen Dimensionen an und können jede für sich das Bewußtsein bereichern. Gerade Religionen tun sich schwer, mit Hilfe der Naturerkenntnis ihre naturmythologischen Traditionen besser zu verstehen. Die Öffnung der Wahrnehmung kann durchaus mit schmerzhaften Enttäuschungen einhergehen, das Loslassen von Täuschungen, die beruhigen und Sicherheit geben sollen. Die Weise des Ankommens kann die Natur in ihrer Eigendynamik sein lassen als die Herkunft der Existenz. Sie trägt im Kommen bis an die Ufern des Geistes. Sie versteht den Geist nicht, aber der Geist kann die Natur verstehen.
In der Kultur versuchen die Menschen, die Entdeckungen des Geistes präsent zu machen und zu nutzen. Bewahrung und Öffnung zeugen von den Urängsten im Ringen mit dem Wagnis in Tiefe, Weite und Höhe. Die Schwingungsenergie in der Musik und die Symbolkraft in Sprache, Schrift und Kunst erschließen neue Dimensionen der Wahrnehmung und Kommunikation. In ihnen können sich Türen öffnen, hinführende Einladungen, oder Verführungen greifen in Täuschungen und Illusionen. Es kann eine Resonanz entstehen zwischen den Trägern des Lebens, die ermutigt und bereichert. Genauso können sich einschließende Gewölbe bilden, die die Regungen des Lebens einfangen und in leere und tote Gebilde ablenken. Im Ankommen braucht es den Mut, diese Wirklichkeit zu durchschauen und in den Geist hinein los zu lassen.
Im öffentliche Raum wirken Natur und Kultur ineinander.
Er ist gezeichnet von den Strukturen der Beziehungskräfte. Wohnen, Bewegen und Kommunikation sind die Grundanliegen, die zur Verwirklichung drängen: Schutz gegen die Naturkräfte und Schutzräume für die Naturprodukte; Wände für Nachbarschaft und Mauern gegen Übergänge; Darbieten und Verstecken; Verkehrswege und Sperrgebiete; Türme in den Himmel und Schächte in die Erde; Handel und Ruhestätten; Verkünden und Demonstrieren; Sich-Präsentieren und Verwahrt-Werden; das Zentrum und der Rand; Frömmigkeit und Zerstreuung; Regieren und Vegetieren; Sammeln und Ablenken; Bleiben und Fliehen.
Wer im öffentlichen Raum ist, sich darin bewegt und sich in seiner Umgebung wahrnimmt, erfährt die Gesellschaft in ihrer Reaktion auf die Urängste. Kooperation und isolierender Abwehrkampf wirken entgegengesetzt. Monumentale Versteinerungen und abdrängendes Unsichtbarmachen stehen dem Ankommen der Suchbewegungen entgegen. Alles, was sich zeigt, geht einher mit allem, was sich nicht zeigen kann. Es kann nützlich und hilfreich sein und es kann Kompensation und Flucht sein. Wer also ankommen will, muß sich vorher von der Oberfläche lösen und den Raum als Zuflucht loslassen. Er wird all das Leid spüren, dass sich hinter den Fassaden verbirgt.
Hier und jetzt gilt die Herausforderung. Es geht um die Verdichtung der Existenz in der Gegenwart.
Gott theologisch an den Anfang des Kosmos und des Lebens zu setzen, bedeutet einen wichtigen Teil der Gegenwärtigkeit nach hinten zu verlagern. Gott als die Zukunft zu definieren, schiebt die Herausforderung der Existenz nach vorne vor sich her. Damit fehlen entscheidende Aspekte der Wahrnehmung und der Bewußtwerdung.
Eintreten in das Nicht-Wissen und Sich-Trauen in die Ungewißheit sind Voraussetzungen für die Öffnung im Hier und Jetzt. Schritte darin werden die tragenden Kräfte spüren, die unterstützen, wirksam werden lassen und Wege weisen.
Wer Gott in seiner Entstehung sieht, muss nach seiner Bestimmung und seiner Berufung Ausschau halten. Er wird in Erklärungssysteme geraten, die diese bereit halten. Das beruhigt, entschärft und friert ein. Die Umwege des Lebens werden als Verrat und Versuchung gebrandmarkt.
Wer Gott in die Zukunft verbannt, führt das Jenseits ein, das eigentliche Leben nach dem Tod.
Das Leben findet mitten im Leben statt, nur so wird es seine Weite und Tiefe gewinnen.
Wie im Himmel so auf Erden. Den Himmel auf der Erde wirken lassen. Die Erde mit dem Himmel verbinden.
Die gebrochene und verirrte Existenz braucht den Himmel, um hin zu finden und um zurück zu kommen. In den Himmel kommt man nicht, es sei denn man geht hinein. Die Verwaltungen der Religionen können nicht über den Himmel verfügen. Nur Menschen, die den Himmel suchen und sich ihm öffnen, können ihn unter die Menschen bringen. Der Zugang zum Himmel ist voller Projektionen, Behauptungen, Ideologien und Gesetzen und dadurch versperrt und schwer zu erkennen. Der Schlüssel ist einfach und fordert doch den höchsten Einsatz. Alle Kräfte und alle Seiten des Bewusstseins, des Fühlens und Denkens zusammenbringen und in die Mitte führen, wo alles mit allem verbunden ist. Dort in die Leere gehen und alle Griffe an das Leben loslassen. Sich den tragenden Kräften anvertrauen und den Kündungen lauschen. Jetzt kann sich der Himmel öffnen und in die Herzen sprechen. Himmel und Erde sind verbunden.
Die kleinen Dinge zeigen sich jetzt anders und neu. Durch sie gestalten sich Beziehungen und klären sich Zusammenhänge und Bedingungen. In den großen Dingen melden sich Mut und Visionen. Entdeckungen bahnen sich an und Schritte auf unbekanntes Gebiet. Mitten in Leid und Krieg erwachen rettende und heilende Impulse. Sie wirken aus sich und holen aus sich die stärkende Kraft. Sie sind Macht und Gewalt nicht unterworfen. Sie brauchen keine offizielle Erlaubnis. Stets geht es um den Einsatz der ganzen Existenz.
Das Gehen aus dem Ankommen heraus ist Öffnung. Sie gelingt nur durch Integration aller Kräfte. Alle Abhängigkeiten, Außenverlagerungen und Projektionen werden losgelassen und aufgegeben. Das Gehen stellt sich dem Unbekannten und Ungewissen.
Im Ankommen ist noch einmal alles möglich. Die Natur und die Kultur tragen bis zu dieser Mitte. Gleichzeitig enthalten sie Widersprüche und sinnlose Zumutungen, denen es nicht um Weite und Tiefe geht. Das Erlebnis der Mitte ist einsam und leer. Die Versuchung, zurückzugehen und Wege der Macht und des Reichtums einzuschlagen oder sich in Ablenkungen zu verlieren, ist groß. Das Gehen ist nicht der vorgezeichnete nächste Schritt. Die Öffnung muss nicht in die Tiefe führen. Sie kann auch wieder aufgegeben werden. Die Schwebe zwischen Angst und mutigem Vertrauen ist nicht leicht auszuhalten. Vor dem Gehen präsentieren sich noch einmal alle Möglichkeiten. Sie schwingen ein mit all ihrer Kraft. Der Verzicht auf das Zurückgehen sammelt ihre Energie und investiert sie in die Bewußtwerdung im Hier und Jetzt.
Das Gehen braucht alle herausgelöste Energie, um seine innere Bewegung zu bewirken.
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