Oscar-Romero-Haus Bonn

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Dieser Text ist erschienen als Beitrag in dem Buch
Werkstatt „Reich Gottes“
Befreiungstheologische Impulse in der Praxis
IKO-Verlag, 2002

Das „Oscar-Romero-Haus“ Bonn
– Eine Überlebenschance des christlichen Aufbruchs –

I. Annäherung an das Haus

Das „Oscar-Romero-Haus“ (ORH) in Bonn ist nicht direkt ein Projekt der Theologie der Befreiung, sondern der Kristallisationspunkt einer christlichen Aufbruchbewegung, für die die Theologie der Befreiung eine große Herausforderung war. Es ist entstanden im Kontext der Katholischen Studentengemeinde (KSG) in Bonn, deren Suche und Engagement in den 70er und den ersten 80er Jahren und vor allem durch einen entscheidenden Konflikt zwischen ihr und der Amtskirche. Und es hängt eng mit Martin Huthmann zusammen.

A) Erster Zugang

Einen ersten Zugang zum ORH ermöglicht ein Blick von der Viktoriabrücke. Verfolgt man die breite Schneise, die die Bahnschienen bilden – die Süd- und Nordstadt von einander trennend -, so landet der Ausblick zunächst am Horizont beim Ölberg des Siebengebirges. Gleitet der Blick zurück zum Standort über die Stadtsilhouette, so tauchen die Spitzen der evangelischen Kreuzkirche und des katholischen Münsters hinter einem modernen Bürohaus auf und weiter links der Block des Stadthauses. Dem Stadthaus vorgelagert fällt nun ein kompaktes Gebäude auf. Als Blickfang wirkt ein Wandgemälde mit hellen, warmen Farben, mittlerweile an der linken Seite von Efeu überwachsen und von kleineren Bäumen verdeckt.

Heute gelingt es nicht mehr so leicht, aber ursprünglich ließ sich bei längerem Hinsehen ein buntes Netz erkennen, zum Fang ausgeworfen oder zur Freigabe der Schätze, die es gesammelt hat. Oder als Vision:    die Zukunft gehört einem Netzverbund von Initiativen. Links oben ein blaues Schwert und direkt daneben ein rotes Kreuz in trauter Allianz der Macht. Und doch blutet das Kreuz und verteilt seine roten Tropfen über das Netz. In der Mitte eine grüne Kirche, die wie ein Schiff auf den Wellen schwimmt, nach unten in ein Wellental, wo es einen Anker findet, der ganz auf dem untersten Grund liegt.
Dieses Gemälde möchte von Lateinamerika erzählen, von der politischen Realität dort und von der Kirche zwischen Macht und Befreiung. Zufällig weist es in Richtung Südwesten, in die Ferne nach Lateinamerika. In die Ferne gehen die Sehnsüchte nach Befreiung, konkret genährt durch die leuchtende Gestalt von Oscar Romero. Darin kristallisiert sich das Anliegen, das in den 70er Jahren in die damalige KSG Bewegung gebracht hatte. Eine Bewegung der christlichen Studenten und der Katholischen Jugend, die auf ihre Weise die Impulse aufgegriffen hatten, die von der 68er Revolte ausgelöst worden waren. Im Mittelpunkt standen das Bewußtsein der „Dritte-Welt“-Problematik, die Friedensbewegung, sozialpolitisches Engagement und vor allem das Übergreifen der Theologie der Befreiung. Frieden, Gerechtigkeit und Basisdemokratie wurden zu zentralen Forderungen, die sich sowohl gegen die Machtstrukturen in Staat und Wirtschaft als gegen die Amtskirche richteten.
Die Konflikte waren vorprogrammiert. es kam zu scharfen Reaktionen der Amtskirche. Eine der Reaktionen war 1982 die Auflösung der Bonner KSG durch den Kölner Bischof, Kardinal Höffner. Der Vorwurf war, die Gemeinde sei zu politisch, demokratisch und ökumenisch, also nicht mehr katholisch. Die damaligen Studentenpfarrer wurden abgesetzt, darunter auch Martin Huthmann.

Dieser nun wollte den Schlag nicht passiv hinnehmen. Er hatte 1973 das spätere ORH als abbruchreifes Gebäude vor der Stadt übernommen und ein selbstverwaltetes Studentenheim ins Leben gerufen. Über Nacht kam die rettende Idee, diesen Ort zu nutzen, damit der Aufbruch weitergehen könne. Und was lag näher, als dieses Projekt „Oscar-Romero-Haus“ zu taufen?!. Selber hatte er erlebt, was es bedeutet, die Macht, die Heilige Macht herauszufordern. Das verbindet und verpflichtet.

B) Die verschiedenen Schichten des ORHes

Mit der Umwidmung zum ORH begann die jetzt noch aktuelle Phase als offenes Haus für Initiativen und Projekte mit kritischem Engagement. Das verdeckt etwas, dass das Haus seit der Übernahme durch Martin Huthmann noch eine andere Ausrichtungszeit hatte, die als ältere Schicht das Schicksal des Hauses wirksam beeinflußt hat.
Als Martin Huthmann 1973 in die damalige Viktoriastraße 27 zog und noch einige Zeit dort mit obdachlosen Familien lebte, um nach und nach mit Studenten in mühseliger Kleinarbeit das Haus zu renovieren und ganz in Besitz zu nehmen, war das gedacht als Projekt „arme Kirche“. Es entsprach seiner Ausrichtung am Leben von Charles de Foucauld. Schon lange gehörte er zur weltweiten Priestergemeinschaft „Unio“, deren Mitglieder bewusst als Weltpriester in ihrer Umgebung ein einfaches Leben mit Offenheit und Nähe zu den kleinen Leuten suchen. Für ihn bedeutete das vor allem, das Leben der Menschen zu teilen, für die er da war. Als Studentenpfarrer wollte er so einfach wie Studenten leben. Vorher war er Seelsorger bei der Marine gewesen und hatte versucht, die Lebens- bedingungen der Matrosen zu teilen.
Ohne diese spirituelle Ausrichtung hätte er nie das Gebäude übernommen. Und es geht auch heute etwas unter, dass in den ersten Jahren wichtige Lebensgrundlagen geschaffen wurden, sowohl rein praktisch durch die Renovierung als auch durch die ersten Strukturen des Zusammenlebens, wie z.B. die Hausversammlungen. Auch konnten immer mal wieder Gäste aufgenommen werden, wie ehemalige Strafgefangene oder Menschen mit persönlichen Problemen.Unter geht auch etwas, dass Martin Huthmann dabei tatkräftig unterstützt wurde von einem Familienkreis der Münsterpfarrei, in der er nach der Zeit bei der Marine vorübergehend Pfarrer war. Dieser Kreis war durchaus offen für neue Aspekte und war einer der vielen wegbereitenden Momente im katholischen Milieu.
In dieser Zeit fand auch ich Zugang zu Martin Huthmann und dem Haus. Gerne denke ich an die Christmetten auf dem Speicher zurück, die in einfacher Art in einer überschaubaren Runde ein wohltuendes Erlebnis waren als Kontrast zum üblichen Gottesdienstbetrieb.
Als ich 1976 mein Jurastudium abbrach und in einer Druckerei als Lagerarbeiter Arbeit fand, suchte ich das Gespräch mit Martin Huthmann, um mir über weitere Schritte klar zu werden. Ich lernte die Biografie von Charles de Foucauld kennen, der als französischer Offizier und Lebemann begann und nach einem Abenteuer als Forscher in Marokko seine christliche Berufung entdeckte, die ihn an den Rand der Kirche in ein armes Trappistenkloster in Syrien führte, um dieses zu verlassen, um noch ärmer leben zu können, bis er schließlich einen Platz in der Wüste unter den Tuareg fand. Dies faszinierte mich zutiefst, entsprach es doch meinem damaligen Lebensgefühl. Für mich hat Charles de Foucauld die Mauern der Kirche geöffnet, um nach draußen zu gehen in die Niederungen mitten in der Welt. Aber meine eigentliche christliche Sozialisation fand ich in der KSG, in dem sozialpolitischen „Arbeitskreis Resozialisierung“.

Ausgehend von monatlichen Besuchen als Kontaktgruppe für jugendliche Strafgefangene in der JVA Siegburg hatte sich ein größerer Arbeitskreis mit mehreren Kleingruppen entwickelt, die jeweils ein oder zwei jugendliche Strafgefangene begleiteten. Es war ein intensives soziales Lernen in der Begegnung mit Menschen am sozialen Rand. Es hatte immer eine politische Dimension, der wir uns gestellt haben. Und es war Selbsterfahrung.

C) Die Geschichte des Gebäudes

Aber unter dieser Charles de Foucauld-Schicht liegt noch eine weitere Schicht. Das ist die Geschichte des Hauses vor der Übernahme durch Martin Huthmann.
Es wurde 1869 als preußisches „Kantonsgefängnis“ in Betrieb genommen für Kurzstrafen. Hier wurden die Kleinkriminellen, bzw. die Störenfriede der öffentlichen Ordnung eingesperrt: Bettler, Landstreicher und kleine Diebe.
Ab 1894 wurde hier die Frauenabteilung des eigentlichen Gerichts- gefängnisses untergebracht. Hier sollten weibliche Strafgefangene durch Arbeit resozialisiert werden. In einer Wäscherei mussten sie die eigene und die Wäsche des Männergefängnisses waschen.
Ab 1933 wurde das Gebäude der NSDAP überlassen, die hier eine SS-Kaserne mit „wildem KZ“ einrichtete. Die alten Gefängniszellen im Keller werden wohl als Folterzellen gedient haben. Es wurde nachweislich auf jeden Fall ein Kommunist, Josef Messinger aus Beuel, hier zu Tode gequält.
Nach dem Krieg wurden in dem stark beschädigten Gebäude obdachlose Familien von der Stadt Bonn untergebracht.

D) Gesamtblick auf das ORH

Das Gebäude trägt also Spuren der deutschen Geschichte, und diese Spuren passen durchaus in die spätere Entwicklungslinie des Hauses als ORH.
Durch die 68er Studentenrevolte war das Thema Macht und Unterdrückung und der Widerstand dagegen zur Herausforderung geworden. Christen spürten darin die Chance, aus der Geschichte zu lernen und gegen den Strom zu schwimmen, sich von unten in die Spannunsfelder der Weltgeschichte einzumischen zugunsten der Menschen unten, der Armen und Verfolgten. Im Gebäude der Heerstrasse 205 sind sie eher unbeabsichtigt auf einen konkreten Ort gestoßen, der die Untergründe in der deutschen Nachkriegsgesellschaft anschaulich ins Gedächtnis ruft. Als ORH steht dieser Ort für die mühsam erlernte christliche Bereitschaft, dort, wo es darauf ankommt, Widerstand zu leisten.
Der Lernprozess des Widerstandes zeigt sich in der späteren Geschichte des Hauses selber. Die Anfänge nach Übernahme durch Martin Huthmann passen eher in ein idyllisches Bild von Kirche am Rand, wie es sie in der katholischen Kirche immer gegeben hat. Ihre Protestseite galt als innerkirchliche spirituelle Ermahnung.
Martin Huthmann hat den Schritt vom spirituellen zum politischen Denken und damit zum Widerstand in der KSG selber lernen müssen. Entscheidend waren dabei der Austausch mit den sozialpolitischen Arbeitskreisen, seine Mitarbeit in dem Arbeitskreis „Kirche in der BRD – Kirche in der Dritten Welt“ und später sein Engagement in der Friedensbewegung. Die Theologie der Befreiung in Lateinamerika, Ernesto Cardenal in Nicaragua und schließlich Oscar Romero in El Salvador waren die großen Herausforderungen an die Kirche in Europa, die immer mehr zu Konsequenzen drängten. In der persönlichen Auseinandersetzung mit Kardinal Höffner blieb er unbeugsam, stellte sich auf die Seite des Aufbruchs und riskierte damit seine Absetzung als Studentenpfarrer.

Die Folgen dieses Konfliktes schlugen sich in der Umwidmung des Hauses nieder. Mit Gründung eines kirchenunabhängigen Fördervereins, der das Haus von der Stadt kaufen konnte, hat das ORH das Hoheitsgebiet der Amtskirche verlassen und ist seitdem nicht mehr in den Schoß der Kirche zurückgekehrt. Es hat nicht mit der Kirche gebrochen, aber es hat sich einen christlichen und gesellschaftlichen Freiraum geschaffen.
Aus einem Gefängnis ist ein offenes konfliktbereites Haus geworden.

Später habe ich mich selber an der theologischen Aufarbeitung des kirchlichen Konfliktes mit einseitig politischen Denkmustern gerieben. Ich konnte nicht den Ansatz teilen, die Bibel sei nur zu lesen unter dem Blick- winkel der Befreiung des Volkes aus den Strukturen der Unterdrückung und nicht mehr als Befreiung des Einzelnen, vor allem von innen her zum eigenen Leben.
Ich respektiere das politische Denken als ernsthaften Versuch, die Realität und christliches Leben heute neu zu verstehen. Aber es reicht meines Erachtens nicht aus, um alle menschlichen Kräfte zu erfassen, die darin zum Tragen kommen. Es fehlt die Ergänzung und Vertiefung durch ein existentielles und personales Verständnis, das den einzelnen Menschen in seiner dramatischen Lebenssuche ernst nimmt.
Es bleibt jedoch das Verdienst des politischen Denkens und der kritischen Kraft dahinter, Eingefahrenes aufgebrochen zu haben. Diesen „Aufbruch“, damit tiefer greifend sich etwas wandeln kann, verbinde ich mit dem ORH.

II. Die Initiativen des ORH

Das ORH ist kein geschlossenes Gebilde, sondern bietet Initiatven und Einzelnen Raum, die sich im Sinne Oscar Romeros einsetzen wollen. So sieht es das Konzept des Trägervereines „Förderverein Oscar-Romero-Haus e.V.“ vor, der 1983 gegründet wurde.

A) Die Basisgemeinde Bonn

Als erste Initiative des ORH kann die ältere von zwei Basisgemeinden, die sich im Haus gebildet haben, gelten: die „Basisgemeinde Bonn“. 1979, noch vor dem entscheidenden Konflikt mit Köln, fanden sich Menschen zusammen, die aus der Studentenphase herausgewachsen waren, jedoch die alten Aufbrüche fortführen wollten. Basisgemeinden in Lateinamerika im Kontext der Theologie der Befreiung waren ursprüngliche Vorbilder. Jedoch wurde ziemlich bald klar, dass die Verhältnisse in Europa anders waren und auch die eigenen Ausgangspunkte. So wurden statt dessen Leitbilder einer basiskirchlichen Entwicklung in Europa, vor allem in den Niederlanden, aufgegriffen.
Im Zentrum stand die Suche nach einem engagierten christlichen Leben in Deutschland in solidarischer Verbundenheit mit der kirchlichen Entwicklung in Lateinamerika. Die Aufmerksamkeit galt sowohl den politischen Verhältnissen als auch der kirchlichen Situation. Anfangs bestimmte die Teilnahme an der Friedensbewegung noch stark das Bewusstsein. Später wurde es zunehmend wichtig, sich als Christen aus der Bevormundung durch die Amtskirche, aus ihren weltfremden Moral und Theologie zu befreien, das eigene Miteinander selber zu organisieren – ohne Vorbedingungen, jedoch als Teil der Kirche. Die Gottesdienste werden auch heute noch gemeinsam mit einem Priester gefeiert, jedoch von allen reihum abwechselnd vorbereitet und geleitet. Die gegenseitige Anteilnahme an der persönlichen und beruflichen Alltagsbewältigung und die gemeinsame Suche anhand des Evangeliums sind die Kernmomente des Gemeindelebens.

1980 bin ich zu dieser Basisgemeinde gestoßen. Inzwischen hatte ich mit Freunden ein alternatives Selbsthilfe-Projekt, die „Randgruppeninitiative Schrotthaufen e.V.“, ins Leben gerufen. Dieses Projekt war aus dem „Arbeitskreis Resozialisierung“ der KSG hervorgegangen, eine Reihe der „Knackis“ war mit dabei. Wir hatten als Ziel einen basisdemokratischen Betrieb, der von Altsachen lebt und dabei Menschen vom Rand der Gesellschaft integriert.

B) Die Gemeinde im ORH

1984 bildete sich eine zweite Basisgemeinde: die Gemeinde im ORH. Diese war anfangs eng verbunden mit der Auflösung der alten KSG. Eine Gemeinde, die von unten und im Aufbruch lebt, durfte in der katholischen Kirche nicht geduldet werden. Stattdessen musste eine Hochschulgemeinde (KHG) her, die von oben organisiert ist, von der Kirchenleitung über die Professoren zu den Studenten. In der neuen KHG war es für die Mitglieder des alten Gemeinderates, der offiziell nicht mehr anerkannt war, zunehmend unmöglich. ihre Formen und Inhalte zu leben. So entschlossen sich viele zum Exodus.
Die Ausgezogenen fanden Zuflucht im ORH. Ähnlich wie in der ersten Basisgemeinde waren Selbstverantwortung und kritisches Engagement wichtig, stärker aber als bei dieser die Offenheit für kreative Momente. Anfangs waren noch Priester mit dabei, schließlich entschied die Gemeinde jedoch nach langer Diskussion, den Gottesdienst ohne Priester zu feiern, die Wandlung gemeinsam zu sprechen und Brot und Wein untereinander zu teilen: ein wesentlicher Schritt!
Die Gemeinde verstand sich zunehmend ökumenisch und wagte sich damit aus der katholischen Prägung. Feministische Theologie kam hinzu und rüttelte an überkommender Sprache, Liturgie und Umgangsformen. Die Basisdemokratie wurde durch das Konsensprinzip radikalisiert und das gemeindliche Leben ganzheitlicher gestaltet: nicht nur Intellekt, sondern auch Körper und Phantasie wurden miteinbezogen. Tanzen, Bibliodrama, und spielerische Gestaltungselemente gehörten dazu. Die Teilnahme an der Friedensbewegung war selbstverständlich, genauso die Orientierung an Oscar Romero.
Diese Gemeinde steht für die eigentliche Oscar- Romero-Phase des Hauses. Seit einiger Zeit trifft sie sich nur noch wenige Male im Jahr zu besonderen Anlässen.

C) Wohngemeinschaften

Das ursprüngliche Konzept eines selbstverwalteten Studentenheimes wurde durch die Umwidmung zum ORH abrupt geändert, natürlich gegen den Widerstand der alten Bewohner. Jetzt sollten engagierte Wohngruppen einziehen oder Einzelne, die sich im Sinne des prophetischen Bischofs in El Salvador einsetzten.
So zogen drei Mitglieder des alten KSG-Gemeinderates nach der Auflösung der KSG in die zweite Etage. Von hier versuchten sie, die Anliegen der alten KSG in der neuen KHG zu retten. In die erste Etage zogen drei Mitglieder der Bonner Pax-Christi- Gruppe, die sich von der älteren Basisgemeinde abgezweigt hatte.
In das Erdgeschoss zog ich als Einzelner unter die alten Bewohner. Mittlerweile hatte ich den „Schrotthaufen“ verlassen und war ein halbes Jahr als Wanderer unterwegs gewesen. Eine Zeitlang hatte ich bei den „Kleinen Brüdern“ in Frankfurt-Höchst mitgelebt.
Der „heiße Herbst“ 1983, die „Hardtberg Blockade“ und die Belagerung des Regierungsviertels als Protest gegen den „Nato-Doppelbeschluss“ brachte Leben ins Haus. Die entscheidenden Vorbereitungstreffen fanden auf dem Dachboden statt. Jetzt war das ORH eine Stätte der Friedensbewegung als Ersatz für die KSG geworden.

Die nächste Phase war für mich eine der intensivsten im Haus.
Sechs Mitglieder der neuen Basisgemeinde zogen in die erste Etage.
Ich selber sammelte Reste des „Schrotthaufens“ und Freunde im Erd- geschoss zu einem Wohnprojekt, das offen sein sollte für Menschen von der Straße.
Die WG der Gemeindemitglieder brachte einen gemeinschaftlichen Geist ins Haus, der alte Kampfstellungen ablösen konnte und eine gewisse Ruhe einkehren ließ.
Wir im Erdgeschoss hatten eine intensive Zeit, aber Mühe mit uns selber und manchen Ärger mit Alkohol und Gewalt von meinen „speziellen Freunden“. Das Projekt „Schrotthaufen“ musste während dieser Zeit aufgelöst werden, weil die Gruppe sich auseinandergelebt hatte. 1986 endete diese WG als letztes Wohnprojekt des Erdgeschosses.
Ich selber zog in den Keller in eine umgebaute Gefängniszelle.

In den anderen beiden Etagen wechseln seitdem etwa alle drei Jahre die Wohngemeinschaften, die sich bisher jeweils folgende Schwerpunkte gesetzt haben: Verankerung der jüngeren Basisgemeinde im Haus, Totalverweigerung, ökologischer Umbau des Hauses, Spielplatz für die Kinder der Nachbarschaft mit hohem Ausländeranteil, Kulturküche, Tauschring, Begleitung von bosnischen Flüchtlingen, die einige Zeit Gäste im Haus waren, Asylproblematik.
Die Mitglieder sind im wesentlichen Studenten. Lange Zeit waren stets kritische Christen darunter, seit einigen Jahren nur noch wenige. Die Hauptausrichtung der Bewohner ist heute nicht mehr christlich. Es sind kritische junge Menschen, die Interesse an einem engagierten Leben haben und offen sind für überzeugende Impulse. Die Theologie der Befreiung ist ihnen nicht vertraut, weckt aber ihr Interesse. Manche suchen in den Büros im Erdgeschoss eine Aufgabe.
Keiner verlässt das ORH, ohne zumindest die Luft des alten Aufbruchs geatmet zu haben. Unsere alten Ideale erleben sie manchmal wie einen hohen Anspruch, der ihnen fremd ist. Sie haben andere Erfahrungen gemacht und deshalb eine andere Motivation, etwas zu bewegen.
Das ORH ist in die Jahre gekommen muss jetzt lernen, seine Räume für die Nachkommenden zu öffnen, vielleicht auch sich in seinem Selbstverständnis weiterzuentwickeln.

D) Die Büros im Erdgeschoss

Das Erdgeschoss ist eigentlich die von mir bevorzugte Ebene des ORHes:
dem Boden nahe und von der Straße leicht erreichbar. Unsere WG in der geräumigen hinteren Ecke versuchte, diese Ausgangslage zu nutzen.
In den vorderen Bereich zogen fast gleichzeitig Anfang der 80er Jahre die ersten Büros ein: die „Initiative Kirche von unten“ (IKvu) und die „Informationsstelle Guatemala“. Damit waren zwei wesentliche Schwerpunkte gesetzt: Emanzipation von der Amtskirche und Solidaritäts-arbeit mit Lateinamerika. Für beide war der aufbrechende Einsatz Oscar Romeros Orientierung und Motivation.
In der IKvu hatten sich Basisinitiativen und Basisgemeinden zusammengeschlossen, um sich gemeinsam mit Macht und Unterdrückung in Kirche und Gesellschaft auseinanderzusetzen. Die ältere Basisgemeinde war an den Anfängen stark beteiligt, später mehr die Gemeinde im ORH. Zum Forum der Themen- und Öffentlichkeitsarbeit wurde der „Katholikentag von unten“, später zum „Kirchentag von unten“ umgetauft.

Die Solidaritätsarbeit mit Lateinamerika wurde durch weitere Büros verstärkt:
Seit 1987 durch die „Informationsstelle Lateinamerika“ (ILA) und kurz darauf durch die „Informationsstelle EL Salvador“ Die ILA übernahm die Räume unseres Wohnprojekts. Damit veränderte sich das Erdgeschoss zu einer reinen Büroetage.
Mit der ILA kam eine ältere und erfahrene Initiative ins Haus. Ihre Anfänge liegen um 1975 im deutschen Komitee zur Unterstützung des zweiten „Russel-Tribunals“, das sich mit Lateinamerika befasste, besonders auch mit Chile seit dem Sturz Allendes 1973. In mehreren Staaten von Südamerika und später auch Mittelamerika geschahen ähnliche Vorgänge. Immer wieder versuchten sich Militärregierungen brutal gegen die Opposition durchzusetzen. Der Widerstand und die Befreiung wurden daraus resultierend gewaltsam organisiert. Diese hochbrisante Lage war das Thema dieser Zeit. Aber auch die Zusammenhänge mit den reichen Industrieländern, die Auswirkung der wirtschaftlichen Ausbeutung auf die Vorgänge in diesen Ländern.
Die ILA informiert über die aktuelle Entwicklung in diesen Ländern und auch über die Möglichkeiten der Solidarität. Genau das ist aber das Umfeld der Theologie der Befreiung. Mit ihr wurde die Problematik kirchlich und christlich interessant und zur Herausforderung für die europazentrierte Kirche und Theologie.

E) Kellerzeit

Im Erdgeschoss hatte ich noch einmal Menschen zum gemeinsamen Leben und Arbeiten gesammelt. Zum letzten Mal. Das Projekt „Schrotthaufen“ hatte aufgelöst und abgewickelt werden müssen. Die alternative Phase war zu Ende. Es blieben die Kontakte zu den Menschen am Rande und die dichten und wichtigen Erfahrungen, die immer auch Selbsterfahrung waren. Schließlich wollte ich keine neuen Projektentwürfe mehr machen, sondern die Entwicklung offen lassen. Das passte nicht mehr in den Wohn- und Projektbereich des Hauses, aber in die Ebene des Kellers, wie ich sie verstand.
Im Keller suchte ich die Nähe zum Tiefengrund der deutschen Geschichte und eigentlich, wie ich später immer mehr begriff, die Nähe zu meiner Biografie. Es war das Erbe meines Vaters, der als Jugendlicher in den Nationalsozialismus hineingezogen worden war, weil er aus der patriarchalischen und katholischen Enge seines Elternhauses ausbrechen wollte. Er war überzeugter Offizier und später Strafrichter. Er starb mit 51 Jahren an einer schweren Kriegsverletzung und hinterließ seine Vergangenheit als offene Frage. Zunehmend verstand ich meinen Weg nach unten als unbewusste Suche, an diese ungelöste Frage heranzukommen.
Auch meine Wanderungen galten dieser Suche nach der tieferen Realität in Deutschland und meiner eigenen Verstrickung darin. Aber sie galten auch der Suche nach Menschen, die als Christen einen Weg nach unten gegangen sind an die Knotenpunkte, wo Macht und Ohnmacht sich berühren. So stieß ich 1983 auf einer längeren Nordwanderung auf den Kreis der „Arbeitergeschwister“ im Ruhrgebiet, dem Regionaltreffen eines bundesweiten Zusammenschlusses. Ausgehend von den deutschen Arbeiterpriestern hatte dieser sich für alle Christen geöffnet, die in die Arbeitswelt gegangen sind. Diesem bunten Kreis mit oft langen und engagierten Erfahrungen fühlte ich mich sehr verwandt und verbunden, und seitdem gehöre ich dazu.
Mit meinem Einzug in das ORH hatte ich begonnen, als Tagelöhner zu arbeiten, zusammen mit Menschen auf der Straße oder aus dem benachbarten Caritasheim für Nichtsesshafte. Ich arbeitete als Möbelträger, beim Gleisbau, in einer Fabrik für Backsubstanzen, beim Zeltebau, im Gartenbau, auf dem Bau.
Die umgebaute Gefängniszelle im Keller wurde auch ein geeigneter Ort, wo mich meine Freunde besuchen konnten. Er war ihnen nicht fremd. Und dennoch entschied ich mich 1995, diesen Raum aufzugeben, weil ich spürte, äußerlich etwas bewältigen zu wollen, das ich nur innerlich aufarbeiten konnte: mein deutsches Erbe finden und aufklären.

III) Gedanken zur Entwicklung des christlichen Aufbruchs

Die Kraft des christlichen Aufbruchs hat mittlerweile deutlich an Elan und Breitenwirkung verloren. Das ist gesamtgesellschaftlich und genauso im ORH zu spüren.
Alte Kämpfer sehen die Gründe in der Individualisierung unserer Gesellschaft. Manche gestehen sich ein, mit dem Zusammenbruch des Sozialismus im Osten eindeutige Kontrast-Kategorien zur Analyse der globalen Phänomene verloren zu haben. Manche alternativen Suchbewegungen gehen mehr nach innen und fragen nach tieferen Zusammenhängen, zu denen auch die eigenen Beweggründe gehören.

Für die christliche Suche sehe ich das Abebben der politischen Phase in der Linie einer Entwicklung. Die politische Theologie und auch die Befreiungstheologie sind getragen von dem Versuch, die weltfremde hierarchische Ebene von Kirche und Theologie zu verlassen und sich der Realität zuzuwenden. Notwendigerweise liegt ein Schwerpunkt in der Emanzipation, im Freikämpfen von Abhängigkeiten. Oft liegt aber mehr Kraft im Kontra als im Pro, und es besteht die Gefahr der Gegen- abhängigkeit. Die Bereitschaft zum Kampf gegen Unfreiheit ist immer auch Projektion eigener Anteile auf die äußere Welt. Eine authentische Befreiung ist deswegen ohne Aufarbeitung der subjektiven Motivation und der eigenen Biografie nicht möglich.
Nur in sich selber frei werdende Menschen können sich wirksam in Gruppen zusammenschließen, in denen sowohl biologische als auch gesellschaftliche Verhaltensmuster, die zu Macht, Gewalt und Krieg führen, überwunden werden.
Soweit dies geschieht, ist das eher ein innerer Prozess, der nicht die Öffentlichkeit sucht, aber es ist kein Rückfall in alte Unfreiheiten. Von innen nach außen kann sich dieser Prozess langfristig auf die Gesellschaft auswirken.
Schon früh hat mich der Ansatz Horst-Eberhard Richters in seinem Buch „Die Gruppe“ überzeugt, der politische und tiefenpsychologische Aspekte aufeinander bezieht. Später fand ich entscheidende Anregungen bei Eugen Drewermann. So entwickelt dieser in seinem Buch „Jesus von Nazareth“ ein Konzept stufenweiser Befreiung. Ausgehend von der therapeutischen Befreiung des Einzelnen gelangt er über die sozial- psychologische Wirkkraft in therapeutischen Gruppen zu den Ebenen der Politik, der Wirtschaft und des Zusammenlebens der Völker. Es geht ihm dabei nicht um die Befreiung mit den Mitteln der Politik, sondern um eine Herauslösung aus den Mechanismen der existentiellen Angst als Voraussetzung für eine andere Lebenshaltung. Seine Vorhaltung an die politische Theologie, Jesus habe die vorbehaltlose Begegnung als religiöse Befreiung gesucht, aber keine politische Konfrontation, auf diese Weise aber gerade sein Leben gegenüber den frommen Machthabern riskiert, bleibt eine ernsthafte Anfrage.
Ob das ORH sich in dieser Richtung weiterentwickeln wird, muss offen bleiben.
Ich selber möchte nicht mehr hinter den christlichen Aufbruch zurück, aber auch nicht dabei stehen bleiben.

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